DIE FLIEGENDEN STÄDTE

Copyright: Anand Buchwald, eMail: anand@Mirapuri-Enterprises.com

 

An der Küste eines Meeres, das Gesicht der Weite zugewandt, stand reglos Matarishvan. Die Abenddämmerung war schon vorüber und der Himmel hatte die Farbe von schwarzblauem Samt angenommen. Matarishvan stand im Sand und wartete.

Matarishvan war ein junger Mann, der in der nahegelegenen Stadt arbeitete. Er kam oft abends hierher und wanderte sinnend am Strand entlang und betrachtete dabei die Muster, die die Wellen in den Sand gemalt hatten. So hatte er auch heute die Muster betrachtet - und er fand, daß sie diesmal ganz anders aussahen als sonst. Der Sand sah aus, als sei er durchsetzt mit Blumen oder mit Edelsteinen und Sternen, und irgendwie fühlte er sich, als ob er sich durch eine wie magisch leuchtende Blumenwiese bewegen würde. Diese Muster hatten etwas ganz seltsames an sich, etwas, das ihn irgendwo im Innern bewegte, aber er konnte nicht genau herausfinden, was es war. Schließlich blieb er stehen und blickte über das Meer in die Weite, die der Weite, die er jetzt in seinem Innern durchstreifte, so ähnlich war.

Matarishvan unternahm oft solche Streifzüge und hatte dabei manchmal in seinem Herzen eine feine Ahnung berührt; so auch diesmal. Aber etwas war doch anders. Da war ein Hauch von Gold um die Ahnung geweht und hatte den Wunsch nach etwas Neuem in ihm geweckt, nach Freiheit, nach Entdeckungen und Abenteuern. Und so stand er jetzt am Ufer eines Meeres und versuchte dem Schimmer zu folgen. Etwas in ihm sagte ihm, daß dies die Nacht der Nächte war, ein besonderer Augenblick, wie er für ihn vielleicht nie wieder kommen würde, und mit wachsender Gewißheit wartete er geduldig und unbewegt.

Irgendwann nahmen seine Augen über dem Horizont einen goldenen Glanz wahr. Erst dachte er, die Sterne würden flimmern, aber der Glanz bewegte sich an den Sternen vorbei und sank immer mehr dem Horizont entgegen. Dabei wurde der Glanz immer stärker, und er sah, wie sich ein warmer, goldener Schein auf ihn zubewegte. Während der Schein näher kam, sah Matarishvan, daß das Gold nicht einheitlich war, sondern daß sich ihm eine riesige, runde Plattform näherte, auf der sich allerhand befand. Als sie noch näher kam, konnte er Häuser und Türme und Brücken unterscheiden, und schließlich Menschen, die sich zwischen den Gebäuden und den vielen Bäumen und Gärten bewegten. Er hatte eine fliegende Stadt vor sich. - Aber es war keine Stadt im üblichen Sinne, die jetzt über ihm verharrte, denn diese war ganz anders: Die Häuser hatten alle möglichen Formen, etwa Kugeln, Pyramiden, Türme, Polyeder, Hyperboloide oder Pilze und gingen fließend in große Gärten und Brücken und Straßen über. Ja, irgendwie schien die ganze Stadt selbst eine Blüte zu sein, die noch nicht ganz entfaltet war. Und noch etwas war anders: Es gab keinen Lärm und die Menschen in ihr hatten alle ausdrucksstarke, leuchtende Gesichter. Und diese Stadt schwebte, ganz Verheißung, über ihm, als ob sie auf etwas wartete.

Es war, als stellte die Stadt, die da oben über ihm schwebte, ihm eine Frage oder als wäre die Stadt selbst eine Frage an ihn. Er schaute in sich - und plötzlich begriff er. Es war wie ein Sonnenaufgang in der Wüste: Plötzlich war ihm klar, daß er sein ganzes Leben auf diesen Augenblick gewartet hatte, auf die Erfüllung seiner Sehnsüchte, und daß er mitfliegen konnte, wenn er wollte. Aber das würde auch bedeuten, sein ganzes bisheriges Leben zurückzulassen. Ohne länger zu zögern schaute er voll Freude und Zuversicht nach oben, und dann beantwortete sein ganzes Wesen die über ihm schwebende Frage mit einem kraftvollen, tausendfachen JA.

Und als hätte die Stadt ihn gehört, senkte sie sich langsam auf ihn hernieder. Er fühlte, wie das Goldene Leuchten seinen Kopf berührte und ihn mit einem Prickeln weit und hell machte, wie es tiefer sank, das Herz in Wonneschauer hüllte und schließlich sein ganzes Wesen durchdrang. Dann, eine kleine Regung, und er stand nicht mehr am Sandstrand, sondern auf einer Blumenwiese, die genauso aussah wie die Empfindungen, die der Sandstrand im Laufe des Abends in ihm geweckt hatte. Jetzt wußte er warum.

Dann hob sich die fliegende Stadt etwas und glitt mit ihm über die Stadt, in der er früher gelebt hatte, in den Nachthimmel hinein. In der Stadt unten auf der Erde schien niemand etwas von diesem grandiosen Schauspiel bemerkt zu haben.

Nun begann Matarishvan die Goldene Stadt zu durchstreifen und all ihre Wunder zu bestaunen, und alle Menschen, die er traft, waren ihm wie Freunde oder auch Geliebte oder Brüder und Schwestern, und ihm war, als ob er schon immer hier gelebt hätte. Schließlich gelangte er an das Zentrum. Es war ein großes, zwölfeckiges Gebäude aus weißem Marmor mit drei Stockwerken, das wie eine Pyramide wirkte, jedes Stockwerk kleiner als das vorhergehende und mit einem goldenen Dach. In diesem Gebäude schien das ganze Licht und die Wärme und die Liebe, die die Goldene Stadt unablässig durchströmten, ihren Ursprung zu haben. In diesem Gebäude wohnte der gute Geist der Goldenen Stadt. Erwartungsvoll trat Matarishvan ein, und was ihm in dem lichtdurchströmten Haus wiederfuhr, läßt sich mit Worten kaum beschreiben. Jedenfalls erhielt Matarishvan Einblick in sein Wesen und seine Bestimmung und in das Wesen der Goldenen Stadt und ihre Bestimmung.

Als er aus dem weiß-goldenen Gebäude heraustrat, war er ein neuer Mensch. Er durchstreifte wieder die Stadt, bis er zu einem wunderschönen Garten kam, der ihn wie magisch anzog. Er wanderte etwas in ihm umher, und als er einmal um eine dichte Hecke bog, über der sich viele Birken im goldenen Licht wiegten, hatte er plötzlich den Eindruck, sich in einem weiten und hellen Haus zu befinden, obwohl eigentlich keine Mauern zu sehen waren. Was er aber wohl sehen konnte und auch sogleich seine Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein Mann, der hier die unterschiedlichsten Arbeiten erledigte. Matarishvan bekam Herzklopfen. Er trat näher heran, und plötzlich hielt der Mann in seiner Tätigkeit inne und wandte sich ihm zu. Als ihre Blicke sich trafen, verblaßte die Welt um Matarishvan und eine Woge aus Wärme und Liebe überrollte ihn mit ihrer Fülle. Und es war, als würden sie einander schon seit vielen tausend Jahren kennen. "Ah, da bist du ja", sagte der Mann schließlich freudestrahlend, und sie fielen sich in die Arme und küßten einander hingebungsvoll. Und von nun an arbeiteten sie zusammen.

Unterdessen flog die Goldene Stadt weiter über Städte, Länder, Meere und Kontinente. Manchmal bildete sich auf der Stadt, die ja wie eine Blüte war, ein Tautropfen, der dann dort auf die Erde fiel, wo auch das Licht der Blütenstadt hinfiel. Wo der Tropfen auftraf, wurde alles mit einem bleibenden goldenen Schimmer überzogen.

Manchmal sah man auch unten einen kleinen, goldenen Punkt schimmern. Dann verlangsamte die Goldene Stadt ihre Fahrt, steuerte auf den goldenen Punkt zu und wartete über ihm. Wenn dann ein JA ertönte, landete sie und nahm den Punkt auf. Und auf diese Weise wurden immer wieder neue Mitbürger oder auch Baumaterial und andere Dinge in die Stadt aufgenommen. Und mit jedem Halt wurde die Stadt dichter, konkreter. Zwar war die Stadt eigentlich schon fertig, doch an einigen Stellen war sie zwar fühlbar fest, aber recht transparent, während sie andernorts eine recht irdisch anmutende Festigkeit besaß und auch sehr massiv aussah, obwohl man bei genauerem Hinsehen auch den Eindruck von Transparenz hatte: Es war wie ein Schimmer oder Glanz, der in den Tiefen verborgen war und das Gefühl vermittelte, als würde die Substanz leben und könnte jederzeit auch eine andere Form annehmen. An diesen Stellen hatte die Blütenstadt nochmal einen besonderen Ausdruck, als ob sie hier noch vollständiger, noch wahrer wäre.

Irgendwann war es dann soweit: Die Goldene Stadt steuerte ihren endgültigen Landeplatz an. Wer gut sehen konnte, der erblickte im Licht des Vollmondes auf der Erde ein vollkommenes Ebenbild der Goldenen Stadt, das ganz aus den Lichtstrahlen des Mondes erbaut schien. Als die beiden Städte bei der Landung miteinander verschmolzen, war es, als ob ein Aufatmen durch den ganzen Erdball ging, und durch die ganze Erde floß pulsierende Kraft in die Goldene Stadt, und aus ihr floß die Kraft der Liebe und Wärme, des Lichtes und der Erneuerung in die Erde und erfüllte diese mit größerem Leben. So wurde die Blütenstadt zum Herzen der Erde. Und die Blüte entfaltete sich und erstrahlte zu nie gekannter Schönheit, und dann ging etwas wie ein Wonneschauer durch die Stadt, und seit diesem Zeitpunkt kommen aus dem weißgoldenen Gebäude im Zentrum der Stadt immer wieder Samenkörner hervor und fliegen in alle Teile der Welt. Wenn sie dann an einer Stelle, wo ein Tautropfen niedergegangen ist, einen Menschen mit einem goldenen Herzen finden, dann landen sie, keimen, wachsen und werden zu einer Goldenen Stadt. Wenn so eine Stadt groß genug geworden ist, nimmt sie diesen Menschen auf und fliegt um den Erdball auf der Suche nach neuen Bewohnern.

Und wenn so eines Tages die ganze Erde zu einer großen Goldenen Blütenstadt geworden ist, dann wird über der ersten Goldenen Stadt eine ganz neue Stadt entstehen und sich mit den Wesen unserer Zukunft bevölkern und über das Meer durch den samtblauen Abendhimmel zu den Sternen fliegen, und die ganze Erde wird dazu die Hymne der goldenen Städte singen: "Laßt uns Lichtinseln bauen..."

 

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