DER TRAUMBRUNNEN
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INHALT
1. Veränderungen
2. Die Suche
3. Trommelschlag
4. Im Reservat
5. Zu Füßen des Ashkandras
6. Gräber
7. Ramon
8. Besucher
9. Gentaro
10. Die Entdeckung
11. Der Traumbrunnen
12. Der Herr der Träume
13. Der 13. StammKapitel 1
VERÄNDERUNGEN
Tom-tom tom-ta-ta-tom-ta-ta-tom-tom tom-tom tom-ta-ta-tom-ta-ta-tom-tom...
Anfangs war der Klang der Trommeln kaum wahrnehmbar. Aber nach und nach wurde der Sound lauter. Anscheinend fand irgendwo weit weg eine Parade statt, obwohl ich in den Lokalnachrichten nichts darüber gelesen hatte. Vielleicht war es eine spontane Veranstaltung – irgendeine Demonstration oder eine Technoparty. Wie auch immer, es war mir egal. Die Sommerwohnung meiner Eltern, in der ich mich zur Zeit aufhielt, lag weit davon entfernt auf dem obersten Stockwerk eines terrassenförmig angelegten Gebäudes nahe der Küste, irgendwo im Süden Virginias, und jede wie auch immer geartete Veranstaltung würde sicher dem Verlauf der Hauptstraße folgen. Also, was es auch war, die Lautstärke würde nicht so hoch werden, dass sie anfangen würde, mich zu stören.
Ich lag nackt auf einem Liegestuhl auf der Terrasse, schaute auf das Meer hinaus und ließ die Sonne auf mich herabbrennen. Ehe ich dem Leben wieder gegenübertrat, wollte ich mich noch gleichmäßig bräunen lassen. Es heißt, dass Sonne, Ruhe und Meeresluft die Gesundheit wiederherstellen, die Nerven und den Humor. Und das war genau das, was ich brauchte. Irgendwie war mein Leben aus den Fugen geraten, und ich musste die Dinge überdenken und alles, was geschehen war, neu einschätzen, denn meine Kollegen und Freunde sahen das alles ganz anders.
Mein Name ist Brian Lancelot Ruiz Daniel O’Day. Ich bin 25 Jahre alt und habe die ungewöhnliche Kombination von blonden Haaren und braunen Augen. Das Haar habe ich von meinem Vater, der irische Ahnen hat, und meine Augen sind das Erbe meiner Mutter, die auf spanische Vorfahren zurückblicken kann. Obwohl man mir oft sagte, dass ich gut aussähe, würde ich meinen Körperbau eher als durchschnittlich und gesund einschätzen. Mein Oberkörper ist nicht besonders trainiert und verfügt auch nicht über den obligatorischen Waschbrettbauch (nicht, dass mir das viel ausmacht – ein Waschbrettbauch verlangt eine Menge Arbeit, die zu investieren ich keinesfalls willens bin), und meine Muskeln waren auch nicht weiter ausgeprägt. Andererseits hatte ich eine natürlich schlanke Figur, und obwohl ich eher träge war, hatte ich bislang kein Fett angesetzt, da ich gerne schwamm, wanderte und mit dem Fahrrad fuhr.
Nun, meine Schwierigkeiten begannen, als ich entscheiden musste, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Ich wusste in dieser Frage nicht weiter. Da ich in der Schule gut war, konnte ich fast alles machen – und ich hatte eine sehr große Bandbreite an Interessen. Aber diesbezüglich fand ich jede Entscheidung eigentlich voreilig. Da ich aber um eine Entscheidung nicht umhin kam, entschied ich mich schließlich für eine Arbeit im Bankgewerbe, da ich Zahlen schon immer sehr mochte. Zahlen waren verlässlich und kalkulierbar und darum keine Bedrohung. Zahlen boten keine Möglichkeiten und Alternativen, zwischen denen man wählen musste. Bankjobs waren sicher, und höchstwahrscheinlich würde ich auch nicht viele Überstunden machen müssen, so dass ich genügend Freizeit für meine zahlreichen Interessen hätte.
Es zeigte sich, dass diese Überlegungen richtig waren. Obwohl ich die Arbeit nicht wirklich mochte, war sie auch nicht weiter schwierig. Auch wenn sie nicht optimal war, würde sie mich doch zumindest nicht belasten. Soweit die Theorie. Die Praxis sah etwas anders aus. Mein Chef, der Direktor der Bank, war ein Wesen, das in meinen Berechnungen nicht vorkam und auch nicht zu dem Bild passte, das ich mir von einer Bankatmosphäre gemacht hatte. Er war ... Stimmungen unterworfen, also eher übellaunig. Wenn etwas danebenging, sei es in der Bank oder in seinem Privatleben, mussten alle darunter leiden.
Da ich recht sensibel war, fand ich die allgemeine Atmosphäre in der Bank an solchen Tagen recht bedrückend. Und war ich das (für gewöhnlich unschuldige) Opfer, musste ich meine Zähne zusammenbeißen und mir sagen, dass das nichts Persönliches war und am nächsten Tag alles vergessen wäre. Aber solche Ereignisse mehrten mein Unbehagen und auch meine Überzeugung, wirklich am falschen Platz zu sein. Diese Überzeugung wurde auch von meinem Magen und häufigen Alpträumen geteilt.
Meine Kollegen und Freunde, die eher ein extravertiertes Temperament hatten, konnten jedoch meine Irritationen nicht verstehen. Die Zurechtweisungen schienen von ihnen abzuprallen, so sagten sie zumindest. Sie kümmerten sich einfach nicht um seine Anfälle. Da ich aber diesbezüglich etwas unbegabt war und das grobe Benehmen meines Chefs nie verstand oder akzeptierte, litt ich sehr unter dieser Situation.
Eines Tages informierte mich dann mein Vermieter, dass er meine Wohnung innerhalb von zwei Monaten für seine Tochter bräuchte. Das fand ich nicht so gut, denn die Wohnung war sehr schön und kostete nicht viel Miete. Nun musste ich mich nach einer anderen Wohnung umsehen, die ich mir leisten konnte, was nicht so angenehm war, denn ich mochte Veränderungen überhaupt nicht. Doch natürlich machte ich mich daran, eine neue Unterkunft zu finden.
Dann, eines Abends, dämmerte mir, dass diese Haltung einen Mangel an Charakter offenbarte. Das ganze Leben ist Wandel, und Stagnation bedeutet Tod. Nichts bleibt je dasselbe, obwohl die Geschwindigkeit, mit der dieser Wandel vonstatten geht, sehr von der Sache abhängt. Die Sonne brennt beispielsweise seit Milliarden Jahren mit nahezu gleicher Leidenschaft auf uns herab. Für uns erscheint sie unveränderlich. Und doch verbrennt, oder besser fusioniert, sie in jeder Sekunde ungeheure Mengen von Wasserstoff zu Helium und bringt in einem elfjährigen Zyklus Sonnenflecken hervor.
Und das menschliche wie auch das pflanzliche und tierische Leben sind wirklich ein Feuerwerk von Veränderung, vor allem in jüngeren Jahren oder Stadien. Wenn ich an meine frühe Jugend zurückdenke, so erinnere ich mich an die Aufregung über neue Enthüllungen oder die Zufriedenheit, wenn ich neues Wissen und Einsichten erworben hatte.
Irgendwie hatte mir das Leben mehr Spaß gemacht, als ich jünger war, und es hatte immer etwas Neues zu entdecken gegeben. Doch einige Dinge verschlossen sich mir, und da ich gewisse Zusammenhänge und den Platz, den die Dinge in individuellen und kollektiven Wertesystemen einnahmen, nicht verstehen konnte, hielt ich mich oft zurück, statt mutig die Welt zu erforschen. Ich fühlte mich unwohl, wenn ich falsch lag oder missverstanden wurde, und so entwickelte ich bald eine gewisse Schüchternheit und die Neigung, auf Dinge zurückzufallen, die bereits bekannt und vorhersehbar waren. Daher kam dann auch meine Berufswahl, die ich bereits bedauerte.
Jetzt, mit der anstehenden Veränderung meiner Wohnsituation und dem Hintergrund der recht bedrückenden Bankatmosphäre, hätte ich mir eigentlich langsam dieses Mechanismus bewusst werden müssen. Ich erkannte, dass mein Widerwille, mich zu verändern, das Wichtigste war, das zu verändern wäre. Wenn ich ein etwas elastischeres Temperament hätte, dann hätte ich längst gekündigt und mich zu neuen Horizonten aufgemacht. Aber leider sind grundlegende Veränderungen nicht leicht, und ich brachte es nicht über mich, mein Leben komplett umzukrempeln.
Wie dem auch sei, innerhalb eines Monats fand ich eine neue Unterkunft, die ich beziehen konnte, kurz bevor ich die andere Wohnung verlassen musste; das wäre Anfang Juni. Ich war sehr erleichtert, obwohl mir die Arbeitssituation immer noch zusetzte.
Eine Woche später wurde dann ein Kollege krank, und ich musste seine Aufgaben übernehmen. Er arbeitete in der Kreditabteilung und musste entscheiden, ob ein Kredit gewährt würde oder nicht. Da ich nicht gerne Entscheidungen traf, war ich darüber nicht besonders erfreut, aber es gab Richtlinien, an die ich mich halten konnte, und so war die Arbeit nicht allzu schlimm. Doch ab und an musste ich einen Kreditantrag ablehnen, und sehr bald wusste ich, dass mich dieser Aspekt der Arbeit gewiss nicht glücklicher machen würde. Aber es war nur für zwei Wochen, bis mein Kollege wieder gesund war.
Aber kurz bevor ich zu meinen alten Aufgaben zurückkehren konnte, hatte ich ein schwieriges Problem mit einem Klienten. Mr. Dodd hatte einen Kredit beantragt, und den Zahlen und Richtlinien nach hätte ich ihn gewähren müssen. Aber ich wusste, dass Mr. Dodd eine schlechte Gesundheit hatte. Wenn er ernsthaft krank wurde oder starb, ehe er seine Schulden zurückzahlen konnte, würde er oder gegebenenfalls seine Witwe das Haus, in dem sie lebten, an die Bank verlieren. Da sich die Bank nicht um menschliche Schicksale kümmerte, sondern nur um die Zahlen, also das Geld, war ich verpflichtet, den Kredit zu gewähren. Statt dessen erläuterte ich Mr. Dodd ausführlich die Risiken, die er eingehen würde, wenn er auf dem Kredit bestand. Ich versuchte ihm sein Vorhaben auszureden und fragte ihn, ob er keinen anderen Weg finden könnte, mit den Umständen fertig zu werden, denen er sich gegenübersah. Mit etwas Gutwillen, der Reduzierung einiger Pläne und der Hilfe von Freunden und Verwandten könnte er vielleicht den Kredit vermeiden oder ihn beträchtlich vermindern. Schließlich erklärte er sich bereit, die ganze Angelegenheit zu überschlafen.
Gegen Mittag am nächsten Tag wurde ich in das Büro des Direktors gerufen. Beim Eintreten bemerkte ich sofort die sehr gespannte Atmosphäre im Raum. Mr. Monroe, der Direktor, ging ruhelos und mit einer gewissen Heftigkeit hinter seinem Designer-Schreibtisch auf und ab, was ein sehr schlechtes Zeichen war. Kaum hatte ich die Türe hinter mir geschlossen, als er mich, ohne mir einen Platz anzubieten und ohne Einleitung und mit kaum kontrolliertem Ärger in seiner Stimme fragte, ob ich einen Herzanfall bei ihm auslösen wollte (was meiner Meinung nach ohnehin überfällig war), ob ich die Bank ruinieren wollte, ob ich glaubte, ich könnte die Bank besser leiten als er, und so fort. Ohne eine Pause zu machen und mir die Chance zu geben, etwas zu sagen, fuhr er fort mit Beleidigungen über die allgemeine Qualität meiner Arbeit und meinen Geisteszustand und mit all den Beschimpfungen, die im Zustand des Tobens universal zu sein scheinen.
Mir dämmerte schnell, dass der gestrige Kunde irgendwie direkt mit ihm telefoniert haben musste oder vielleicht mit einem der leitenden Angestellten gesprochen hatte. Und Mr. Monroe war alles andere als erfreut. Während der Inhalt seiner Beleidigungsversuche mich überhaupt nicht berührte, da ich wusste, wer ich war und was meine Fähigkeiten waren (und es gibt noch viele andere Dinge, die mir weiter nichts ausmachen), brachen doch sein Zorn und sein mehr oder weniger offener Hass wie eine fürchterliche Woge über mich herein und versuchten mein Selbstwertgefühl, meinen inneren Frieden und meine Widerstandskraft hinwegzuwaschen. Und der ganze Angriff war insofern erfolgreich, als ich wirklich zitterte, wenngleich gewiss nicht der Argumente wegen, denn es gab kaum welche. Doch je länger diese mehr als unangenehme Situation andauerte, desto mehr erlangte mein Verstand seine Fassung wieder und konnte in gewissem Rahmen meinen derangierten nervlichen Zustand ausgleichen.
Als er schließlich eine Pause einlegte, versuchte ich die Situation zu erklären, aber meine Sicht der Dinge interessierte ihn überhaupt nicht. In seinen Augen hatte ich eine Todsünde begangen, indem ich absichtlich den Gewinn der Bank vermindert hatte. Das war absolut unverzeihlich. Der menschliche Gesichtspunkt, den ich betonte, und der Hinweis auf das Image, das sich die Bank nach außen hin gab, waren für ihn absolut unbedeutend.
Dieses ausschließlich finanzielle Interesse war mir zutiefst zuwider (obwohl ich in einem Geldinstitut arbeitete, hatte ich mich bislang nur mit Zahlen auseinandersetzen müssen und nicht mit Schicksalen), und je länger die Auseinandersetzung andauerte, desto stärker erhob sich in mir nicht nur ein tiefer Ekel vor der gegenwärtigen, unschönen Situation und der Geldpolitik ganz allgemein, sondern auch eine Art Heiliger Zorn, der von mehreren nicht gerade angenehmen Jahren genährt wurde und von einer inneren Überzeugung und -einem Unwohlsein, als wäre ich im falschen Film.
Schließlich beschloss ich, dass es genug war. Mit äußerlich ruhiger Stimme sagte ich ihm, dass in meiner Liste der wichtigen Dinge des Lebens Mitgefühl einen wesentlich höheren Platz einnimmt als Gier, und dass die Kontrolle über so viel Macht auch nach der Kultivierung höherer ethischer Maßstäbe verlangt – und zum Teufel mit der Bank. Aber in meinem nun wachsenden Zorn enthielt ich mich doch der Beleidigungen. Ich sah keinen Grund, mich auf sein Niveau zu begeben.
Und dann durchströmte mich der Ruf der Freiheit. Ich kündigte fristlos – und er nahm an. Ich war endlich frei.
Es war ein so richtig gutes Gefühl; ich hätte das schon vor Jahren tun sollen. Da war eine solche Sicherheit, dass ich das Richtige getan hatte, es war einfach unglaublich. Aber ein anderer Teil von mir war doch recht schockiert: „Das war’s. Jetzt habe ich keinen Job mehr. Was soll ich jetzt tun?“
Innerlich zerrissen und doch triumphierend räumte ich meinen Schreibtisch und ging nach Hause in eine Wohnung, die ich innerhalb von zwei Wochen auch räumen musste.
Gleich am nächsten Tag fing ich an, nach einer neuen Stelle zu suchen. Es dauerte ein paar Tage, ehe ich begriff, dass das nicht einfach werden würde. Erstens konnte ich nicht einfach eine neue Stelle bei einer anderen Bank bekommen, denn bei jedem Bewerbungsgespräch würde ich unweigerlich gefragt werden, weshalb ich meine alte Stelle gekündigt hätte, und meine Haltung in dieser Hinsicht würde sicher nicht den Ansprüchen genügen, zum anderen wegen der sogenannten globalen Finanzkrise und der zugehörigen Verminderung verfügbarer Arbeitsplätze (obwohl ich nicht wirklich an diese tägliche Wiederholung in den Zeitungen glaubte). Und da ich dem Bankengeschäft nicht gerade zugetan war, sah ich mich zum Dritten der Frage gegenüber, was ich nun wirklich mit meinem Leben anfangen wollte. Jetzt, da ich Zeit und Grund hatte, darüber nachzudenken, sah es genau genommen so aus, dass ich damals diese Frage beiseite-geschoben hatte, indem ich mich einfach für eine der Möglichkeiten entschieden hatte, die mir die Berufsberatung anbot, unterstützt durch verbale oder unausgesprochene Einflüsterungen meines sozialen Umfelds. Als ob sie alle hätten wissen können, was das Beste für mich war. Das Einzige, was sie beurteilen konnten, war das ungefähre Ausmaß von einigen meiner Fähigkeiten. Und außerdem bezweifle ich doch sehr, dass die Beraterin, eine unscheinbare, mausgraue Frau mittleren Alters mit einem desillusionierten Ausdruck im Gesicht, überhaupt Fantasie hatte und irgendetwas empfehlen würde, das abseits des üblichen Pfades lag, etwas wirklich Individuelles. Jetzt musste ich nach mehreren verschlafenen Jahren aufwachen und die Arbeit selbst tun.
Als ich also schließlich erkannte, dass ich nicht einfach so kündigen konnte und dann so weiterleben, als ob nichts gewesen wäre, telefonierte ich mit meinen Eltern, erklärte die augenblickliche Lage und fragte, ob ich ihre Sommerwohnung für ein paar Tage haben könnte, um etwas Tapetenwechsel zu haben und auch etwas Ruhe, um die Dinge zu überdenken.
Und das versuchte ich nun. Ich hatte schon länger von einer besseren Welt geträumt, aber wer tut das nicht. Oft versuchte ich mir vorzustellen, wie eine solche Welt beschaffen sein müsste, und mir wurde bald klar, dass man eine solche Welt nicht auf dem Verordnungswege durchsetzen könnte. Es waren die Menschen, die ein Beispiel geben müssten, denen eine schönere Welt wichtiger wäre, als dieses hinreichend bekannte Debakel. Jeder Mensch müsste sich frei entfalten können und würde zum Wohle der Gemeinschaft arbeiten, statt für Besitz, die Künste würden sich in den Menschen entfalten und statt Geld- und Machtgier wären Liebe und Zusammenarbeit die Grundlage des Lebens. Wenn ich wüsste, wie man den Stein ins Rollen bringt... Zumindest hatte ich meine Träume, und die konnte man zum Glück nicht verbieten.
Nun, fürs Erste war ich jetzt hier, schaute auf den Ozean und ließ mich bräunen, aber mir war immer noch nicht klar, wie es jetzt weitergehen sollte.
Zumindest wirkte der Blick auf den Ozean beruhigend, und ich fühlte bereits einen bescheidenen Frieden. Er war sogar stark genug, um den Ärger, den der Sound der Technoparty, der weiterhin zunahm, noch vor ein paar Tagen bewirkt hätte, zu mildern. Irgendwo im Hintergrund meines Kopfes konnte ich mich sogar auf den Rhythmus einschwingen und meinen Fingern gestatten, im Einklang mit der Musik auf den Stuhl zu trommeln. Normalerweise hätte ich es mir untersagt, dieser Art von Musik Zugang zu gewähren. Aber die Sonne und der Ozean machten mich schläfrig. Und außerdem war der Rhythmus eigentlich gar nicht so schlecht, er war recht eigenartig und seltsam faszinierend.
Tom-tom tom-ta-ta-tom-ta-ta-tom-tom tom-tom tom-ta-ta-tom-ta-ta-tom-tom...
Mit dem Klang der Trommeln glitt ich langsam hinüber in das Reich der Träume.
Als ich einige Zeit später erwachte, hatte das Trommeln aufgehört. Etwas nagte im Hintergrund meiner Gedanken, und ich fühlte mich ruhelos. Die Frage, was ich jetzt machen sollte, war immer noch ungelöst.
Ich überdachte noch einmal meine Optionen: Eine weitere Stelle im Geldgeschäft wollte ich ganz sicher nicht. In den paar Jahren bei der Bank hatte ich natürlich etwas Geld beiseitegelegt. Ich konnte es mir leisten, mehrere Monate darüber nachzusinnen, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Wenn ich dann und wann ein paar Jobs annahm und meine Eltern um Unterstützung bat, könnte ich auch an einer Universität studieren. Oder ich könnte mir eine Stelle suchen, die keine besonderen Fähigkeiten verlangte, und die darum auch nicht gut bezahlt war. Soweit meine alltäglichen Möglichkeiten.
Doch jetzt hatte ich eine neue Idee. Sie war fast schon romantisch. Ich könnte meinen Transporter nehmen und durch das Land fahren, ab und zu einen Job annehmen und mich niederlassen, wenn ich einen Platz fand, den ich mochte, oder einen Mann, den ich liebte. Da ich am Wochenende oft wanderte, war der Transporter campingtauglich. Ich würde nicht viel Geld benötigen. Mit der Hilfe der zusätzlichen Jobs könnte ich meine Mittel eine ganze Zeit lang strecken. Das klang abenteuerlich, und ich mochte Abenteuer eigentlich nicht gerade, was wahrscheinlich mit ein Grund war, dass ich mir diesen verdammten Beruf ausgesucht hatte. Nun, wahrscheinlich hatte ich in letzter Zeit zu viel ferngesehen, vor allem Road Movies. Ich – und ziellos im Land umherfahren. Das war einfach nicht mein Stil.
Ich beschloss, mich etwas abzukühlen. Ich zog meine Badehose an, schnappte mir ein Badetuch und ging zum Strand hinunter, um etwas zu schwimmen. Es würde nichts schaden, mich etwas auszutoben. Wasser und Bewegung haben eine befreiende Wirkung auf meinen Verstand.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war das Bettlaken zerwühlt und ich war schweißnass. Es war eine recht unruhige Nacht gewesen, und ich fühlte mich immer noch ruhelos. Ich brauchte etwas Bewegung. Vielleicht sollte ich wandern gehen. Das sollte mir helfen, mich zu beruhigen.
Dann überdachte ich nochmals meine Optionen, und über Nacht war zumindest eine Sache klar geworden: Ich konnte nicht so innerhalb von ein paar Tagen entscheiden, was ich jetzt tun sollte. Also telefonierte ich nach dem Frühstück mit meiner Mutter:
„Hi, Mom, hier ist Brian.“
„Ja, natürlich geht‘s mir gut.“
„Nein, ich weiß noch nicht, was ich als Nächstes tun werde. Darum rufe ich an.“
„Nein, ich möchte nicht in Dads Firma eintreten. Das ist nicht gerade das, was ich vom Leben erwarte. Es wäre ein ähnlicher Fehler, wie der Job, den ich gerade gekündigt habe.“
„Ja. Ja.“
„Pass auf. Ich habe darüber nachgedacht und kann unmöglich innerhalb der nächsten paar Wochen entscheiden, was ich anfangen werde. Kann ich hier in der Wohnung bleiben, bis alles klarer wird? Dann bräuchte ich die neue Wohnung nicht mieten und könnte so etwas Geld sparen.“
„Oh! Das wolltest du selbst vorschlagen? Dann ist das ja klar. Danke.“
„Und könntest du mit meinem neuen Vermieter reden? Das ist nett.“
„Hör zu. Ich werde morgen für ein paar Tage wandern gehen, ich werde also nicht da sein, falls du anrufst. Aber ich höre meine Mailbox dann und wann ab.“
„Ja, ich werde darüber nachdenken. Du weißt, dass ich beim Wandern die besten Ideen habe.“
„Ja, tschüss. Und alles Liebe an Dad.“
Ich legte auf und seufzte. Die Mailbox würde ich nicht zu oft überprüfen. Ängstliche Mütter sind bisweilen wirklich anstrengend. Aber ich war erleichtert, dass diese Sache geklärt war und ich für den Augenblick die Freiheit hatte, meine Probleme mit meiner eigenen Geschwindigkeit zu lösen.
Jetzt, da ich darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass es eigentlich keinen wirklichen Druck gab. Dieser Stress, zu einer Entscheidung zu kommen, war eher selbstauferlegt. Ich ging davon aus, dass von mir erwartet wurde, sofort eine neue Karriere zu starten. Ich hatte wieder einmal die Erwartungen der Gesellschaft zu meinen eigenen gemacht, anstatt mir meine eigene Meinung zu bilden. Ich fing an zu erkennen, dass ich bis jetzt nicht gerade mein eigenes Leben gelebt, sondern mich in ein vorgefertigtes Schema eingefügt hatte und aus freien Stücken versucht hatte, es zu meiner Wirklichkeit zu machen. Nun, es scheint, dass ich diese Auszeit wirklich bräuchte, um mit diesen plötzlich auftauchenden Fragen ins Reine zu kommen. Die Wandertour schien mir dafür ein guter Anfang zu sein.
Nach dem Mittagessen fuhr ich in das Stadtzentrum, um einige Vorräte zu kaufen und ein paar nützliche Dinge zu besorgen. Ich war im Supermarkt fast fertig und gerade auf dem Weg zur Kasse, als ich die Trommeln wieder hörte.
„Oh!“, dachte ich. „Diese Party scheint eine regelmäßige Einrichtung zu sein.“
Zehn Minuten später hatte ich gezahlt und packte die Sachen in den Van zu meinen anderen Besitztümern, die immer noch dort verstaut waren. Als ich meine alte Wohnung räumte, hatte ich alles in mehrere Fächer gepackt, die ich letztes Jahr für eine längere Wandertour eingebaut hatte. Jetzt waren sie vollgepackt.
Da die Wohnung möbliert gewesen war, musste ich wenig packen: Kleidung, Bücher, Kamera, Computer und ein paar Kleinigkeiten. Als ich hier ankam, hatte ich einfach alles im Van gelassen, da ich -keine Lust hatte, auszupacken. Also beschloss ich jetzt, alles mitzu-nehmen.
Bislang schlugen die Trommeln immer noch, und da ich noch ein paar weitere Sachen besorgen musste, entschloss ich mich, etwas nachzuforschen. Auf der Suche nach einem Laden, in dem ich die meisten der noch ausstehenden Dinge finden könnte, wandte ich mich in die allgemeine Richtung, aus der die Trommeln klangen. Der Laden war bald gefunden, und zwanzig Minuten später verließ ich ihn mit einer vollen Tasche. Ich wandte mich wieder nach Westen, wo der Sound herzukommen schien. Zehn Minuten später sah ich ein Geschäft, in dem ich sicher den Rest von meiner Liste erhalten könnte. Ich hatte Recht, und als ich den Laden verließ, machte ich mich daran, dem Sound zu folgen.
Da seine Lautstärke nicht zunahm, sondern konstant blieb, folgerte ich, dass er sich langsam von mir wegbewegte. Also verdoppelte ich meine Geschwindigkeit und folgte der Klangquelle. Aber es schien, als ob ich nicht näherkommen würde. Statt dessen wuchs die Entfernung zu meinem Van stetig. Schließlich gab ich auf und fragte eine Passantin, ob sie wüsste, wo das Trommeln herkäme. Inzwischen war ich doch neugierig geworden.
Aber sie runzelte nur erstaunt die Stirn und fragte: „Welche Trommeln. Da sind keine Trommeln.“
Ich schaute sie ungläubig an: „Der Sound geht schon seit bald einer Stunde so. Ich konnte ihn aus etwa einem Kilometer Entfernung hören. Sie können ihn unmöglich überhören!“
Sie zuckte mit den Schultern: „Vielleicht werde ich ja taub. Vielleicht hören Sie Ihren eigenen Herzschlag, oder sie haben ein Problem mit Ihren Ohren. Sie sollten sie untersuchen lassen.“ Und damit drehte sie sich um und ging davon.
Ich war wie vom Donner gerührt – und in genau diesem Augenblick verklangen die Trommeln. Da ich mir meiner sicher war, fragte ich jemand anderes, einen Jugendlichen auf einem Skateboard. Er starrte mich an, runzelte ebenfalls die Stirn, deutete ein wissendes Lächeln an und sagte: „Das ist ‘ne neue Art, jemand anzumachen. Die war mir noch unbekannt.“
Das hieß für mich erstmal, dass auch er die Trommeln nicht hörte, so dass ich jetzt etwas verwirrt war. Hatte ich wirklich ein Problem mit meinen Ohren? Ich dachte immer, dass mein Gehör recht gut war.
Und dann ... dann bedeutete das auch noch etwas anderes. Ich versuchte mich an einem gewinnenden Lächeln und sagte: „Es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen. Hast du Lust?“
Langsam fuhr er mit der Zungenspitze die Lippen entlang: „Wenn du einen ungestörten Platz kennst...“
Wir einigten uns auf den Abend, und auf dem Weg zurück zum Van hielt ich nach einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt Ausschau. Ich fand auch einen, aber da ich unangemeldet kam, musste ich über eine Stunde warten, ehe ich an der Reihe war. Ich berichtete von den seltsamen Ereignissen, und die Ärztin machte ein paar Tests.
Danach meinte sie: „Ihr Gehör ist ausgezeichnet und der Zustand Ihrer Ohren ebenso. Da ist alles in Ordnung. Wenn Sie unter starkem Druck stehen, könnte es sein, dass Ihnen Ihr Gehirn etwas vorgaukelt. In diesem Fall ist es das Beste, zu entspannen. Spielen Sie Puzzle, gehen Sie schwimmen, stricken Sie oder gehen Sie wandern. Und schlafen Sie viel.“
Damit war ich so weit wie zuvor auch. Ich beschloss, das Phänomen vorerst zu ignorieren. Morgen würde ich ohnehin wandern gehen, und das Problem würde vielleicht von selbst verschwinden. Und -außerdem hatte ich diesen Abend wahrscheinlich angenehme -Gesellschaft, die mich vom Brüten abhalten würde.
Zudem störte mich das Trommeln nicht wirklich. Es war nicht zu laut und nur etwa eine Stunde lang zu hören. Und bislang war meine Konzentration nicht beeinträchtigt. Mittlerweile gefiel mir der Rhythmus sogar. Er hatte etwas Beruhigendes an sich und noch etwas, was ich aber noch nicht richtig greifen konnte.
Zurück in der Wohnung kümmerte ich mich um die Wäsche, bügelte, spülte das Geschirr, packte meinen Rucksack, meinen Computer und den Fotoapparat und verschob die Frage, wohin ich morgen fahren wollte, auf später. Dann entspannte ich mich bei einem Video, während ich auf das Klingeln der Türglocke wartete.