Polyamory

Ein Blick auf mögliche zukünftige Beziehungsgemeinschaften
anhand Sartres Stück "Geschlossene Gesellschaft"

Copyright: Anand Buchwald, eMail: anand@Mirapuri-Enterprises.com

 

Der existenzialistische Philosoph und Schriftsteller Jean Paul Sartre schrieb 1944 das Stück „Geschlossene Gesellschaft“. Darin schuf er ein Szenario, in dem sich drei Menschen nach ihrem Tod zusammen in einem geschlossenen Hotelzimmer wiederfinden. Alle haben sie irgendwie das Leben anderer Menschen zerstört und rechnen jetzt mit entsprechender Bestrafung. Bei den Dreien handelt es sich um die reiche Estelle, die intellektuelle, lesbische Postangestellte Inès und den Journalisten Garcin. Doch es stellt sich kein höllischer Kerkermeister ein. Statt dessen steht ihnen unbegrenzt Zeit zur Verfügung. Schnell entwickelt sich eine statische Dynamik: Inès verzehrt sich nach Estelle, Estelle begehrt Garcin, und Garcin verlangt es nach der Zuneigung und Anerkennung von Inès. Der jeweils Dritte wird als störend empfunden, und so machen sie einander das Leben schwer und kommen bald zu dem Schluss: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Um dieser Hölle zu entgehen, beschließen sie, nicht mehr zu interagieren, was nicht funktioniert, und sie versuchen sich gegenseitig umzubringen, was auch nicht klappt, weil sie schon tot sind. Sie befinden sich in einem ewigen Kreislauf, aus dem sie nicht entkommen können – der Hölle.
In diesem Stück wird der Mensch porträtiert, der sich nicht entwickelt und der durch diese Stagnation letztlich die Welt auf den Abgrund zu steuert.
In ihrem Umgang miteinander sind die drei von Formationen geprägt, von festen Gewohnheiten, die im Bewusstsein so etwas wie einen Entitätscharakter aufweisen. Diese Formationen bestimmen, wie sie den Anderen wahrnehmen und sind Ausdruck von kräftigem Egoismus. Ihr Weltbild ist fixiert, und es ist nur das von Interesse, was in dieses Weltbild passt. Und so interessiert sich jeder mit Tunnelblick nur für einen bestimmten Aspekt eines der beiden anderen, während der jeweils übrig gebliebene für ihn vor allem als Störfaktor existiert. Das Gegenüber wird auf einen Aspekt reduziert, und zwar auf den Aspekt, der zur eigenen Lustbefriedigung wichtig ist. Der Mensch wird nicht als Ganzes wahrgenommen, als Individuum, sondern auf die gewünschte Funktion als Lustknabe reduziert. Es ist ein frühkindliches, blindes „Haben wollen“, das sich im Menschen ausdrückt und sich nicht wirklich weiterentwickelt hat. Jeder stellt sich in den Mittelpunkt und sieht nur das, was er vom Anderen haben möchte. Und so offenbart sich die Hölle als ein ewiger Kreislauf von Wünschen, ohne Aussicht auf Erlösung.
Diese Menschen befinden sich in der Hölle, weil sie ihre Vergangenheit mitschleppen. Ihre Vergangenheit sind bestimmte Denkweisen, Verhaltensmuster und Wünsche. In ihrer Entwicklung sind sie irgendwann bis zu einem bestimmten Punkt gekommen und haben sich seither nicht mehr weiterentwickelt. Die Welt ist so und so und wird von dieser Entwicklungsstufe aus, von diesem Punkt der Vergangeheit aus betrachtet. Da die Welt sich aber stetig weiterdreht und sich verändert und immer wieder neu darstellt, stimmt sie immer weniger mit ihrem alten, fixen Weltbild überein. Was nicht in das fixe Weltbild passt, wird ausgeblendet, wodurch ihre Welt immer kleiner wird, oder ihre Wahrnehmung wird durch die rosa Brille der Vorstellungskraft zurechtgebogen. Und dementsprechend reagieren die drei Toten. Sie nehmen zwar wahr, dass sie tot sind, aber das ändert nichts an ihren Ansprüchen, an dem Verlangen, das jeder nach jeweils einem anderen empfindet. Jeder befindet sich in seiner Welt, in seiner Vergangenheit, und nur diese alleine ist von Bedeutung. Und deswegen wird sich an ihrer Situation niemals etwas ändern, und deswegen befinden sie sich auch in der Hölle.
Eine Möglichkeit diese Situation etwas weniger infernalisch zu gestalten, bestünde darin, die irgendwann abgebrochene Entwicklung wieder aufleben und die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich auf den Weg in die Gegenwart zu begeben. In der Gegenwart zu leben bedeutet, die Welt so zu nehmen, wie sie ist, ungeschönt durch rosa oder sonstwie getönte Brillen. Und es bedeutet auch, auf diese Welt zuzugehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. In diesem konkreten Fall bedeutet das erst einmal eine Bestandsaufnahme. A verlangt es in irgendeiner Form nach B, aber B interessiert sich nicht für A, sondern für C und empfindet dieses Interesse von A als unangenehm. Dafür hat aber C Interesse an A. Sich der Gegenwart zuzuwenden bedeutet also erst einmal sich einzugestehen, dass das Interesse, das man hat, nicht erwidert wird, dass aber ein Interesse von anderer Seite besteht. Außerdem zählt zum Leben in der Gegenwart auch, zu erkennen, dass man als A nur an einem bestimmten Aspekt von B interessiert ist, nicht an B als Individuum, und dass man B damit nur ein Objekt betrachtet. Und die dritte Erkenntnis ist die, dass man mit zwei fast unbekannten Menschen zusammengesperrt ist.
Wenn man also einen Schritt in die Gegenwart tun möchte, muss man sich vom Autisten in einen Pragmatiker wandeln, der die Situation so akzeptiert wie sie ist, denn durch Nicht-Akzeptanz ändert sie sich nicht. Ändern kann man sie nur selbst, indem man die Vergangenheit los- und sich auf die Gegenwart einlässt. Die Gegenwart sind zwei andere Menschen, die man praktisch nicht kennt und die nicht bereit sind, nach fremden Spielregeln zu agieren. Die nächste Erkenntnis ist also die, dass die eigenen Wünsche nicht in Erfüllung gehen werden, weil die anderen keine Objekte sind, die man auf einem Schachbrett hin- und herschieben kann, sondern Subjekte, dem eigenen Selbst ähnlich und mit einer eigenen Gedanken- und Empfindungswelt ausgestattet. Wenn man es dann geschafft hat loszulassen, dann kann man daran gehen, zu den beiden Gegenübern eine neue Beziehung aufzubauen, die nicht vom Verlangen geprägt ist, sondern von Interesse. Dabei bemerkt man dann vielleicht, dass der Wunschpartner nicht ganz so rosarot ist wie vorgestellt, und der Störenfried nicht ganz so schwarz. Und so beginnt man, etwas von der Realität wahrzunehmen und sich auf neuem Level mit der Lage zu arrangieren. Man ist jetzt zwar nicht gerade im Himmel angelangt, aber das Höllenfeuer ist doch merklich abgekühlt. Und was das Beziehungskarussell betrifft, so hat man jetzt, da die Vernunft ein wenig die Oberhand gewonnen hat, die Lösungsmöglichkeit, die eigentlich schon jedem Kind klar sein könnte: Man kommt überein, dass jeder mit jedem Sex hat – so hat bei jeder Begegnung der eine mehr, der andere weniger Spaß; keiner kommt dabei zu kurz, aber es ist auch für keinen die reine Wonne.
Aber dabei muss es nicht bleiben. So wohltuend und notwendig Pragmatismus manchmal ist, so führt er doch auch regelmäßig gerne in eine Sackgasse, denn ihm fehlen Fantasie und Vision. Für den reinen Pragmatiker gibt es nur die Gegenwart und die Reaktion auf eintretende Ereignisse. Die Zukunft ist ein fernes Traumland, dessen Wirklichkeit sich im der Lauf der Zeit zeigen wird oder auch nicht. Wenn man also aus der Stagnation entkommen und die sich anbahnende Ödnis abschütteln will, dann muss man über den Pragmatismus hinausgehen – man braucht Visionen.
Der Pragmatismus hat uns vom puren Verlangen zur Fähigkeit der Koexistenz gebracht, aber das Verlangen nicht beseitigt und seinen Kern nicht gelöscht. Dem Verlangen liegt in seinem Kern der Wunsch nach Einheit zugrunde, der Verschmelzung von Objekt und Subjekt, die Liebe. Der erste Schritt in diese Richtung war am Ende der pragmatischen Stufe die Erkenntnis, das das Objekt seiner Eigennatur nach ein Subjekt ist, mit dem daraus folgenden Interesse am anderen Subjekt. Wenn man nun aus dem mittlerweile nicht mehr schmerzhaften, aber doch freudlosen Zustand ausbrechen möchte, darf man nicht mit dem Status Quo zufrieden sein, sondern muss aus der Vergangenheit fort streben und ein Feuer in sich finden oder entfachen, das ein Loch in die Mauer der Gegenwart brennt und in die Zukunft voranleuchtet. Man muss das in sich suchen, das bereit ist, die alten Begrenzungen hinter sich zu lassen und in die Zukunft aufzubrechen.
Diese Begrenzungen sind vielfältig und wurden durch die dumpfen Formationen einer versteinerten Gesellschaft so tief in uns verankert, dass wir sie für gewöhnlich nicht bewusst wahrnehmen und folglich auch nicht über sie nachdenken. Wer hingegen einen Sprung in die Zukunft tun möchte, der muss sich mutig über die Fesseln in Herz und Geist hinwegsetzen und sich mit Undenkbarkeiten befassen, die im weiten Licht der Freiheit betrachtet eher lächerlich erscheinen mögen, welche für Menschen mit einem engen Bewusstsein und für die zugehörige Gesellschaft aber vielleicht notwendig sind, die jedoch diese Gesellschaft ihrer inneren Freiheit berauben und sie am wirklichen Fortschritt hindern.
Das fängt an mit der Beziehungsfrage. Bis vor nicht allzu langer Zeit, und in vielen Teilen der Erde auch heute noch, wurden Ehen aus Gründen der Vernunft, der Absprache oder Politik, aber auch aus einseitigem Begehren geschlossen und waren dabei geprägt von der gemeinsamen Arbeit und idealerweise von gegenseitigem Respekt. Sie waren meist nicht sonderlich glücklich, aber sie funktionierten einigermaßen, vor allem, wenn die Partner sich im Laufe der Zeit miteinander anfreundeten. Mit der Romantik kam dann die Idee der Liebe als Beziehungsgrundlage auf und hat sich ganz allmählich zum offiziellen Standardehegrund gemausert. Und in gleichem Maße stieg auch die Scheidungsrate an, weil sich herausstellte, dass die Liebe nur in seltenen Fällen ein Leben lang hält. Und wenn man bis zum Erlöschen des Traums von der großen Liebe noch keine freundschaftliche Beziehung zueinander aufgebaut hat, dann schlägt diese große, ewige Liebe in Hass um. Und das bedeutet, dass die Liebe entweder keine wahre Liebe war, sondern vitales Verlangen gepaart mit Illusion oder äußerer Blendung oder Selbsttäuschung, oder dass man seine Liebe vom Partner abhängig gemacht hat und sie in gemeinsamer Bemühung sanft entschlafen ist, oder dass die Liebe nicht stark genug war, um schwierige oder ereignislose Zeiten und nachlassende sexuelle Spannung zu überstehen.
Wahre Liebe in dem Sinn, dass man seinen Seelenpartner findet, ist eher selten, aber solche wirklichen Liebesbeziehungen können noch am ehesten ein Leben lang halten. Meist jedoch werden große Emotionen und Begeisterung für diese Liebe gehalten. Man täuscht sich gerne über seine wahren Gefühle hinweg, weil die Große Liebe in der Gesellschaft, der Literatur und der Filmkultur sehr hochstilisiert wurde und jeder diesen erhabenen Zustand gerne sein eigen nennen möchte. Hinzu kommt, dass die Liebe, trotz aller Aufklärung, immer noch die Legitimation per se für den Sex ist, wobei übrigens die hochoffizielle Legitimation für den Sex aus traditionellen Kirchenkreisen nicht die Liebe ist, sondern der Status als Ehepaar in Verbindung mit der Absicht der Zeugung von Kindern – was heutzutage zwar mitunter auch ein Grund dafür ist, aber ein recht seltener.
Häufiger, und das ist der eigentliche Grund, ist es das sexuelle Verlangen. Dieses ist neben dem Essen die körperlichste Ausprägung des Wunsches nach Einheit. Diesen Primärgrund sollte man sich ehrlich eingestehen. Das ist praktisch der ursprünglichste Grund sexueller Betätigung, und wenn sich alle Beteiligten über die Natur ihrer Interaktion im Klaren sind, ist auch purer, ehrlicher Sex ohne weiteres akzeptabel und eine gute Grundlage, die eigenen Fertigkeiten zu entwickeln, zu trainieren und wie eine Kunst zu vervollkommnen.
Angenehmer wird diese Kunst natürlich, wenn eine Art Übereinstimmung oder Zuneigung mit im Spiel ist, denn der körperliche Kontakt eignet sich besser als viele Worte, um persönliche wie auch unpersönliche Gefühle auszudrücken. Sex ist also ein Ausdrucksmittel und wirkt für manche Leute wie ein Katalysator, der einen emotionalen Ausdruck überhaupt erst ermöglicht, aber er ist nicht die Ursache für höhere Gefühle.
Sex und Liebe sind also zwei verschiedene Dinge, die nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben müssen, die in ihrer Kombination aber durchaus reizvoll sind, solange man sie nicht voneinander abhängig macht. Wahrscheinlich trifft es am ehesten zu, wenn man sagt, dass Sex eine freundschaftliche Betätigung ist und keine höhere Legitimation braucht. Das wäre dann eine der Grundlagen für den Aufbruch in die Zukunft.
Diese Sicht ist natürlich eine radikale Vereinfachung, denn die wenigsten Menschen sind mit purem Sex zufrieden. Weil wir nach mehr Einheit streben als dieser bieten kann, suchen wir uns Partner aus, die uns physisch anziehen oder die uns innerlich näher stehen und die wir uns dann schönfühlen. Diese innere und körperliche Nähe schafft dann für beide ein Gefühl der Geborgenheit, das man zu beiderseitigem Nutzen ausbauen kann, das aber auch, wenn man sich zu sehr darauf stützt und sich die Wahrnehmung des Partners ändert, sehr schnell in sich zusammenfallen kann. Eine entspannte Einstellung zum Sex und eine freundschaftliche Beziehung zum Partner sind in der Regel krisenfester.
Dann ist auch die Frage der Eifersucht kein so großes Problem mehr, denn diese hat ihren Ursprung darin, dass Sex, Verlangen und Liebe und der Partner fest miteinander verquickt sind. Wenn dann der Partner möglicherweise jemand anderen beglückt, dann gerät das eigene Wohlbefinden, die Sicherheit und die Zuneigung, die man erhält in Gefahr, und das Beziehungskartenhaus fällt in sich zusammen.
Ein Mittel gegen die Eifersucht besteht darin, die Dinge an ihren Platz zu stellen und sie nicht voneinander abhängig zu machen. Ein anderes ist es, einen weiteren Schritt in die Zukunft zu tun und im Bewusstsein zu wachsen. Dann ist man nicht mehr abhängig von Sex, Verlangen, Liebe und Partner und kann dem anderen das Recht auf eine eigene, unabhängige Persönlichkeit zugestehen.
Das kraftvollste Mittel allerdings ist die Liebe, die wirkliche Liebe. Bislang ist Liebe lediglich eine scheinende, überwältigende Emotion, die an Äußerlichkeiten, Illusionen und Beziehungen gebunden ist. Aber wenn man, wie vielleicht die drei Protagonisten, aus der Beziehungshölle ausbrechen und in die Zukunft aufbrechen möchte, dann muss man sich dem Konzept wahrer Liebe öffnen und es aus mystisch erscheinenden Erzählungen in das eigene Leben übertragen. Liebe in ihrer materiellsten Form ist zuerst ein undeutlicher Hunger und ein sexuelles Verlangen, die nie wirklich gestillt werden können. Mit zunehmender Entwicklung nimmt sie die Form einer Zuneigung zu einem anderen Menschen an, die anfangs stark davon abhängig ist, dass dieser Mensch sie auch erwidert. Und oftmals ist sie auch davon abhängig, dass sie einen sexuellen Ausdruck findet, der, wie bei unseren Beispielgebern, neben dem rein physischen Aspekt auch emotionale und mentale Färbungen haben kann. Darum ist diese Liebe auch nie wirklich frei, sondern gebunden und damit, trotz gegenteiliger Verlautbarungen in vergangenen wie gegenwärtigen Medien vergänglich. Kommt der Gegenstand der Liebe abhanden, ist auch die Liebe weg, und man fällt in ein tiefes Loch.
Der Fehler beim Aufkeimen der ersten Liebesregungen liegt also darin, dass man zwar die ganz Welt umarmen möchte, man diesem Impuls aber durch lebenslängliche Konditionierung und gesellschaftliche Konventionen und Formationen außer in anfänglichen Gefühlsausbrüchen nicht nachgibt. Man beschränkt sich in ihrem Ausdruck auf das Objekt der Liebe, woraufhin diese, mal schneller, mal langsamer, im Laufe der Jahre immer mehr nachlässt, bis man sich eines Tages fragt, wohin sie denn verschwunden ist. Liebe gehört aber wie Glück und Freude zu den Dingen, die mehr werden, je mehr man davon gibt. Wenn man also das Glück hat, der Liebe übervoll zu sein, dann darf man sie nicht an sich halten, sondern muss sie großzügig verteilen. Und dabei wird sich dann vielleicht die Sichtweise ändern. Man wird bemerken, dass die Liebe ihrem eigentlichen Wesen nach nicht wirklich persönlich und objektbezogen ist, sondern eine eigenständige Empfindung, die sich außer auf den geliebten Menschen auch auf alles andere beziehen kann und eigentlich auch nicht von anderen Menschen und äußeren Umständen abhängig ist, sondern unabhängig, für sich allein existiert. Sie ist einzig von uns selbst abhängig, ist Bestandteil unserer Natur, den wir nie richtig zugelassen haben. Aber wenn wir diese Liebe in uns entdeckt und gefestigt haben, dann können wir jeden lieben, dann kann jeder Mensch für uns zu einem Giraudoux’schen Apollo von Bellac werden, wenn wir dies wollen. Diese Formation der beschränkten Liebe ist also eine weitere Formation, die unserem Aufbruch in die Zukunft entgegensteht, und wenn unsere drei Höllenbewohner diese Stufe erreicht hätten, dann wären sie dem Himmel schon deutlich näher.
Das Überwinden dieser Formation würde dann bereits den Weg für das Knacken der letzten beiden Formationen bereiten. Die Personen in Sartres Stück müssen sich auch noch dem Problem der Exklusivität stellen. Denn auch wenn sie es schaffen, einander zu akzeptieren oder sich auf irgendeiner Ebene gar zu lieben, so müssen sie doch noch an einer gesellschaftlichen Konvention knabbern, die sie an der Bemühung hindert, einander offen und frei zu lieben und die ihnen ebenfalls mit der Geburt in die Wiege gelegt wurde.
Diese Konvention, die Monogamie/Monoandrie (oder geschlechtsneutral etwa Monoamory) besagt, dass man in seinem Leben nur einen Partner haben kann und darf. Allenfalls, falls es sich überhaupt nicht umgehen lässt, kann man nach dem Ende einer Beziehung eine weitere eingehen. Wenn man das öfter macht, dann hat man zwar insgesamt viele Partner, aber immer nacheinander, man lebt in einer sogenannten seriellen Monoamorie. Dabei denkt man sich eigentlich meist nichts, außer dass vielleicht manche Männer etwas neidisch auf die wenigen Mormonen und Moslems blicken, die sich noch zur Polygamie bekennen. Und noch viel seltener taucht das Phänomen der Polyandrie auf, vor allem in Gesellschaften mit beschränkten Ressourcen. Die bekannten polyamoren Beziehungsformen scheinen dem Untergang geweiht, und dies durchaus zu Recht. Wenn wir mal nur die Polygamie betrachten (mit der Polyandrie verhält es sich analog), so sehen wir, dass einige wenige Männer viele Frauen für sich beanspruchen und viele Männer leer ausgehen, was aber nicht bedeutet, dass in solchen Gesellschaften die Homosexualität eine akzeptierte Lebensvariante wäre. Es entsteht also ein gesellschaftliches Ungleichgewicht, das kaum auszugleichen ist. Die vielen übriggebliebenen, sexuell frustrierten Männer neigen zu Aggressionen und lassen sich damit vorzüglich für den Krieg einsetzen. Natürlich könnte man in unseren modernen Zeiten versuchen, daneben gleichberechtigt die Polyandrie einzuführen, aber Männer teilen nicht gerne, und Teil mit anderen Männern zusammen einer polyandrischen Ehe zu sein, würde ihnen wie ein zusätzlicher Makel erscheinen.
Polygamie und Polyandrie sind also keine Modelle für die Zukunft. Neben dem demografischen Ungleichgewicht, das sie verursachen, gibt es auch ein Ungleichgewicht in der partnerschaftlichen Beziehung. Wenn wir wieder die Polygamie nehmen, so gibt es einen autokratisch wirkenden Mann, auf den sich viele Frauen beziehen, was bildlich einer Fächerbeziehung gleich kommt. Die Frauen haben keine wirkliche Beziehung untereinander; es verbinden sie nur der Mann und die internen Rivalitäten. Das ist vor allem für die Frauen unbefriedigend, und der Mann braucht eine gehörige Nervenstärke. Und auch in Satres Parabel gibt es keine Möglichkeit für eine solche Beziehungsform, denn die drei Protagonisten sind sich ebenbürtig in ihrem Wesen wie in ihren Erwartungen. Ihre einzige Möglichkeit zu einer Beziehung liegt in der gleichwertigen Wichtung ihrer Beziehungsanteile. Das heißt, es kann keine der drei Personen das Beziehungszentrum sein, und deshalb kommt die traditionelle Fächerbeziehung nicht in Frage.
Was allerdings in Frage kommt ist eine wirklich polyamore Beziehung, eine Netzbeziehung, bei der jeder mit jedem oder fast jedem eine Beziehung hat, die Partner also gewissermaßen wie Gehirnzellen miteinander vernetzt sind. Inwieweit die Beziehungen, die bisher als polyamor bekannt geworden sind (auch Sartre war Teil einer solchen) wirklich einer Netzbeziehung entsprachen ist kaum zu beurteilen, denn es ist nie viel darüber nach außen gedrungen. Aber die echte polyamore Beziehung hat das Potenzial zum Modell für die Zukunft. Zwar gibt es immer mehr Singles auf der Welt und die familiären Bindungen verlieren an Bedeutung, aber in diesen Singles wächst der Wunsch nach innerer Verbundenheit anstelle biologischer Bindungen, und sie bilden auch verstärkt geschlechtlich halbwegs gemischte Freundschafts-Netzwerke, die äußerlich noch getrennt sind, weil ihnen der Mut und das Beispiel fehlt, um den Schritt in die Freude der Vielfalt zu wagen und das Bewusstsein noch nicht weit genug geworden ist und diese Möglichkeit noch nicht erfasst hat.
Und es fehlt noch ein Element, das vor dem Entstehen und Gedeihen einer großen, erfolgreichen und vor allem liebesstarken polyamoren Familie geklärt werden muss. Wenn nämlich die Männer mit den meisten Frauen und die Frauen mit den meisten Männern eine Beziehung welcher Ausprägung auch immer haben, so bleibt doch eine gewisse Distanz bei den Frauen untereinander und noch viel mehr bei den Männern untereinander, die zwar freundschaftlich überspielt werden kann, aber doch die Familie letztlich in zwei Fraktionen teilt, und noch kein fest geknüpftes Netz darstellt. Damit eine wirkliche Zukunftsfamilie entsteht, müssen auch die Männer untereinander und die Frauen untereinander intime Beziehungen aufbauen, die auf Nähe, Zuneigung und Liebe, Verständnis und Vertrauen gründen. Gemeinsame Saufrituale oder Kaffeekränzchen sind nur Ersatzhandlungen, welche die Unsicherheit im vertrauten Umgang mit dem eigenen Geschlecht widerspiegeln. Das muss sich nicht unbedingt und immer sexuell ausdrücken, aber eine freundschaftlich-sexuelle Begegnung kann Spannungen abbauen, ein neues Empfinden von Nähe fördern, wenn man sich darauf einlässt, und das Bewusstseinswachstum voranbringen.
Aber dazu muss man auch die Formation der Homophobie und des Nicht-betroffen-seins hinter sich lassen. Vermutlich hat fast jeder Mensch eine mal mehr, mal weniger starke homosexuelle wie auch heterosexuelle Ader. Genaue Erkenntnisse dazu gibt es trotz Kinsey et al. nicht, denn die Menschen, die jetzt zu ihrer Homosexualität stehen, tun dies gegen einen immer noch beträchtlichen gesellschaftlichen Widerstand, auch wenn das rechtliche und öffentliche Klima etwas liberaler geworden ist. Das heißt, es gibt viele Menschen, die sich ganz oder teilweise homosexuell ausdrücken würden oder Lust auf Experimente hätten, wenn dies ein gleichberechtigter Lebensstil wäre. Diese Formation behindert darum effektiv die Forschung in ihrer Bemühung um genauere Zahlen. Da in der Natur fast alles statistisch geschieht, kann man davon ausgehen, dass die Anteile von Homo- und Heterosexualität einer Gauß'schen Normalverteilung folgen, deren Median oder Schwerpunkt noch im heterosexuellen Bereich liegt. Für die Zukunft kann aber prognostiziert werden, dass der Schwerpunkt in die Mitte wandern und die Kurve flacher werden wird, und zwar in dem Maße, wie sich der Mensch ohne Scheuklappen selbst erkennt und auch wie er sich vom Tier weg hin zum wahren Menschen entwickelt, weil dann die geschlechtliche Identität zugunsten der seelischen Identität an Bedeutung verliert.
Um nun zu einer zukunftsträchtigen polyamoren Beziehungsgemeinschaft zu gelangen, sind hetero-, bi- und homosexuelle Menschen beiderlei Geschlechts nötig, die in der Lage sind, Beziehungs- und Berührungsängste abzubauen und im Bewusstsein zu wachsen und so zu einer tieferen und reichhaltigeren Einheit zu finden, als sie in der traditionellen Zweierbeziehung üblicherweise möglich ist. Und das ist im Grunde genommen auch das Rezept für die drei Protagonisten in Sartres Hölle. Sie bilden bereits den entwicklungsfähigen Mindestgrundstock oder die Keimzelle einer polyamoren Familie, und durch Wachstum des Bewusstseins und Abbau der Bleifuß-Vergangenheits-Formationen wäre es ihnen möglich, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und die Gegenwart kontinuierlich in die Zukunft zu tragen und so die Hölle zum Paradies zu wandeln.
Mit der Hölle in seinem Stück „Geschlossene Gesellschaft“, hat Sartre uns einen Bewusstseins-Spiegel vorgehalten, der es uns ermöglicht, einen Blick in unsere persönliche und globale Hölle zu werfen, in der aber bereits alle Möglichkeiten eines himmlischen Daseins ruhen und darauf warten, endlich aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden.

 

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